Zeitsturz
Sechsuhrfünfundvierzig. Festplatte langsam hochfahren.
Ganz sanft gleitet sie in Position, rastet ein, beginnt zu arbeiten.
Letzte Traumsequenzen werden in die nahende Wirklichkeit eingebaut. Hinter
geschlossenen Lidern wird die Bettumgebung und die noch schlafende Frau
visualisiert. Bettuhr will losweckern, wird aber vorher abgewürgt,
um kein mundgeruchfaules Gutenmorgen auf die andere Seite schicken zu müssen.
Raus aus dem Bett, ganz langsam. Keine unnötige Matratzenbewegung.
Unter der Dusche die stolze Erkenntnis: noch immer nicht viel Fett auf
den Knochen, grade mal eine handvoll pro Seite. In der Küche gurgelt
die Kaffeemaschine. Haare im Gesicht werden apparativ entfernt, die auf
dem Kopf manuell geglättet und gescheitelt. Rasierwasser, Mundwasser,
Deo, Parfum. Anzug. Kaffee, Zigarette im Stehen. Magen zuckt. Siebenuhrneunzehn.
Treppen runter täglicher Sport, Haustür zu. Mit Schwung ins Auto,
Amaturenuhr raunt das Verlangte, goldrichtig wie tags zuvor und davor und
los. Radiogeplätscher, die Zeit, es ist genau siebenuhreinundzwanzig.
Grüne Welle. An der zweiten Kreuzung die zweite Zigarette des Tages,
kurz vor dem Parkhaus ausgeraucht. Kippe planmäßig nach draußen
geschnippt. Auto abgestellt. Siebenuhrachtundzwanzig. Pfeifendes Treppenschleppen,
am Kiosk die Zeitung, Tür auf und rein. Siebenuhrdreißig. Dreiundzwanzig
Stufen nach oben. Sieben Hallos, fünf Guten Morgen. Übervoller
Schreibtisch. Computer an. Die neuen Aufträge prüfen. Telefon
klingelt. Siebenuhrzweiundvierzig. Regiobank Gummer, Gutenmorgen. Auch
das zweite Telefon klingelt Regiobank, Gummer. Die Hörer zwischen
den Schulterblättern eingeklemmt. Ja, mmhh, Ja. Zigarette anzünden.
Auflegen. Das Gesicht verziehen. Lächeln üben. Telefon klingelt.
Ja, Gummer. Schultern verkrampfen sich auf Signal. So lassen wir ihn sitzen
bis zur Mittagspause. Zwölfuhr. Zigarette. Aufspringen. Raus. Äquatorhitzige
Schweißfalle. Krawatte lockern, Jacket aus, Ärmel hoch und zu
Mc Donalds. Big Macs reinburgern. Eiskalte Cola hinterherwürfeln.
Rüber ins Bistro. Digitalding überm Tresen. Brüllt Zwölfuhrsiebzehn.
Mittagspils. Verdauungszigarette. Blick hängt an Bildschlagzeilen,
schweift umher und bleibt an miniberocktem Chanelduft kleben. Kollegiale
Berührung. Strahlendweißes Zahnlächeln. Es wird geplauscht,
charmeurt, gelacht, sich nähergekommen und ein Termin für den
nächsten Abend vereinbart. (Du Schatz, ich muß länger arbeiten
heut abend. Da kommen die Sachen aus Frankfurt rein und müssen sofort
bearbeitet werden.) Handgelenkszwölfuhrzweiundvierzig. Leer trinken,
rüber, klimakühles banken.
Sechzehnuhrschluß. Mit Kollegen Markus und Rolf noch auf ein
Bistrobier oder zwei. Siebzehnuhrdreißig die Lokalität gewechselt.
Tellergericht und ein Restaurantbier oder zwei. Neunzehnuhrfünfzehn.
Schon so spät. Hallo Schatz, ich hatte noch ein Arbeitsessen. Ließ
sich nicht vermeiden. Verwischtes Guten-Tag-mein-Name-ist-Gummer-was-kann-ich-für-sie-tun-Lächeln.
Schwimmpupillen. Faulfrischer Pfefferminzatem. Schatz blitzt durch ihn
hindurch und schwingt nach draußen. Kühlschrankkühles Bier
in die Hand. Hinterher. Was ist denn los Schatz. Nichts, S-c-h-a-t-z. Schulterzucken.
Hopfen beruhigt. In der Küche stehen und glotzen, bis es von allen
Wänden achtuhrt. Fernsehen, Zigarette an. Erlösende Nachrichten.
Bier. Wirtschaftsmagazin. Bier. Umschalten. Schatz schält Äpfel,
schneidet Schnitze, ißt blickstarr, hört seine Finger nach der
Fernsehzeitung tasten, ein Rascheln, als er sie hat und ein Aufschrei,
als die Klinge im Handrücken steckt. Schatz schaut auf lächelt.
Er glasaugt zurück, fassungslos. Dazwischen das Messer im Fleisch
wie dazugehörig, wie gewachsen. Schatz dreht es einmal um. Sein Schrei
greift an die Zeiger und schiebt sie an. Sie zieht es raus, ganz ruhig
und hält es hoch überm Kopf. Leises Kinderwimmern legt sich auf
den Tisch. Fernsehuhr tickt auf heute-Journal zu. Einundzwanziguhrfünfundvierzig.
Guten Abend, meine Damen und Herren. Das Handloch, die Fernsehzeitung blutig.
Apfelschalen drumherum. Hör auf zu heulen, Waschlappen. Die Augen
kalt zu Schlitzen gepreßt. Die messerumfassenden Knöchel weißen
sich. Aber...aber... Einundzwanziguhrsechsundvierzig. Du widerst mich an,
s-c-h-a-t-z.
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