Bernhard Gerteis

Am Kasseler Kreuz
 

Staus find ich geil. Superstaus find ich supergeil. Am Kasseler Kreuz ist immer was los. Da fahr ich alle zwei Wochen mal hin. Nach Hamburg oder Dortmund rentiert sich auch. Überhaupt das Ruhrgebiet. Der Frankfurter Raum und rund um Stuttgart. Für den Stau-Fan sind goldene Zeiten angebrochen. Mancher hat inzwischen den Superstau vor der eigenen Haustür. Ein Bekannter aus Mannheim muss nicht mal ins Auto steigen, der klettert hinter seinem Garten über die Leitplanke und hat die bunteste Gesellschaft.

Ich bin auch schon nach Berlin und München gefahren und optimal bedient worden. Pech hatte ich nur am Irschenberg Richtung Salzburg. Sei ein ganz toller Tip, hatte man mir vorgeschwärmt. War aber Sense. Nicht mal zähflüssig. Verkorkstes Wochenende.

Mein längster Stau dauerte zweiundvierzig Stunden und siebenunddreißig Minuten. Ein ganz starkes Gemeinschaftserlebnis. Zweiundvierzig Stunden geklönt und gealbert. Da sind die drögsten Stockfische aufgewacht. Da hat man heiße Würstchen und Schnäpse verteilt. Da ist ein Hubi hoch und hat alles gefilmt. Bei den Abendnachrichten sind wir in den Wohnwagen gesessen und haben unseren Stau von oben betrachtet. Hundertachtundvierzig Kilometer, stell dir das mal vor! Zweiundvierzig Stunden! Wenn das kein Landes-Rekord war. Da sind wir die ganze Nacht zusammengesessen und haben's begossen.

Ein kurzer Stau ist ja überhaupt kein Stau. Da hörst du nur "Verdammte Scheiße" in fünfzehn Mundarten. Die Leute lassen ihren Frust unkatalysiert in die Luft. Das rechte Stau-Feeling kommt erst, wenn die Jungen über die Leitplanken balancieren, die Frauen hinter den Leitplanken dreiviertelsnackt in den Baggersee steigen, die Campingleute ihre Campingmöbel aufklappen, dich zum Zocken einladen und 'ne Runde Bier schmeißen. Da steh ich drauf. Da entstehen Freundschaften fürs Leben. Das gibt's sonst in keinem Fußballverein. Ohne das wäre unsre Nation längst verarmt. Sozial, verstehst du? Jeder Stau ist eine einzige Solidargemeinschaft. Hier lernen die Herzbergers aus Augsburg die Bruckermanns aus Groß-Gerau kennen, die Lauterhofers aus Karlsruhe die Neippert-Nowacks aus Kiel, die Schwerdtfegers aus Freiburg die Lappmanns aus Düsseldorf...

Zugegeben, du kannst auch in deiner Konservenbüchse sitzen bleiben, wenn du total abspannen willst. Du kannst dein Nickerchen machen oder auf dem Seitenstreifen im Kopfstand meditieren. Du hast ja soviel Zeit. Nichts pressiert. In den ersten zwei Stunden fingerst du noch ungeduldig am Handy herum. Oder werkelst dich wie eine gefangene Raubkatze in den Polstern. Das lässt automatisch nach. Bald merkst du, wie unglaublich beruhigend deine Situation ist. Eine Freizeit mitten in der Alltagshetze. Nach einem halben Tag hast du vergessen, welches Geschäft du so dringend in Nürnberg oder Saarbrücken erledigen wolltest. Du genießt den Stau pur, du suhlst dich in seiner Länge, du betest darum, dass er nie zu Ende gehen möge.

Manche Stau-Fans soll's geben, die sogar winterstaugeil sind. Ich selber beginne Mitte April bei schönem Wetter. Meinen ganzen Urlaub verbringe ich im Stau. Wo der Verkehrsfunk den größeren Stau meldet, da fahre ich hin. Manchmal lauere ich schon auf dem Parkplatz. Ich muss nie weit fahren. Ich fahre immer mit Schlafsack.

Zweitausend Kilometer fahren, um die Herzbergers, die Bruckermanns, die Neippert-Nowacks, die Lappmanns auf Sizilien oder in Portugal zu treffen, ich bitte dich, Freund, welch ein Unsinn. Ich treff sie am Kasseler Kreuz, am Kamener Kreuz, am Münchner Ring.

Inzwischen kenne ich sechs Sorten Meiers, nämlich die Meiers selber, dann die Meyers, dann die Maiers, dann die Mayers, dann die Meyrs und Mayrs. Die Meiers aus Konstanz, das sind die mit Hometrainer und Höhensonne, die Meyers aus Passau, das sind die mit der eigenen Stute im benachbarten Gestüt, die Mayers aus Paderborn haben ein italienisches Sportcabrio, das aber nur Papi am Sonntag benützt, die Maiers aus Braunlage, das sind die, die die Geschichte erzählt haben, wo ein deutscher Tourist in Tunesien zwangsbeschnitten worden ist, die Meyrs aus Fürth, die hatten den Gartenzwergkrieg mit der Nachbarschaft zuhause, die Mayrs aus Pirmasens, das sind die, denen man in Spanien das Auto geklaut hat... Nirgends kommt mehr Deutschland zusammen als im Stau. Der Stau verbindet Ost und West, Nord und Süd. Die Staukultur besteht darin, aus Stumpfsinn Spaß zu machen. Deutschland ist das Land mit der höchsten Staukultur.

Glaub mir, Freund, im Stau kannst du mehr lernen als in zehn Volkshochschulkursen. Politik, Sport, Wirtschaft, Filme, einfach alles. Dozenten gibt's genug. Der Unterricht ist kostenlos. In der Urlaubs-Saison erfährst du alles über Griechenland und die Türkei. Über die Côte und die Algarve. Über Paris und Florenz. Fotos und Videos werden gezeigt. Ich kenne inzwischen zweihundert italienische Hotels und dreihundert Strände. Ich weiß, wo es die besten Kellner, die süßesten Drinks, die heißesten Discos, die schärfsten Strandmiezen, die größten Pizzen, die abgelegensten Campingplätze gibt. Ich weiß sogar, mit welchem Boot man auf dem Peloponnes in die Hadespforten hineinfährt und welche Tränen die Madonna von Civitavecchia weint.

Die Leute meinen längst, ich komme frisch vom Süden, wenn ich mein Wissen auspacke. Iwoo, der Süden ist mir viel zu weit südlich. Mehr Süden als am Kasseler Kreuz gibt es nirgends auf der Welt.

Mein Freund, komm doch auch mal, es wird eine Horizonterweiterung für dich sein. Du wirst nie mehr das Wort "Zivilisationskritik" in den Mund nehmen. Du wirst nie mehr auf das Auto schimpfen. Du wirst mit Freuden ein neues Hobby entdecken. Aber sag das bitte nicht weiter! Sonst gibt es noch einen Stau auf der Fahrt zum Stau. Und man will doch nicht den Stau, man will den Urstau... Bis bald...
 
 
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