Walter Landin

Kürzestgeschichten
 

Frau und Tauben

Wenn sie mit ihrem Säckchen kam, wie freuten sich die Tauben. Wie sie flatterten. Wie sie pickten. Noch ein Körnchen ins Kröpfchen und noch eins. Und die Frau sitzt am Rand des Brunnens und erzählt mit den Tauben. Die Leute grüßen freundlich.

Jetzt ist sie nicht mehr da, die alte Frau. Vor ein paar Tagen wurde ihr Haushalt aufgelöst. In der Kammer hinter der Küche fanden die Erben einen Sack. Mit Weizenkörnern. Präpariert.


 

Fahrstuhl I

Er öffnete die Fahrstuhltür, drehte sich noch einmal um und betrat den Fahrstuhl. Er drückte auf den obersten Knopf. Er war allein. Der Fahrstuhl bremste sachte ab. Er öffnete die Fahrstuhltür, ging den langen Gang entlang, öffnete das Fenster und sprang.


Das Zimmer

Das Zimmer, in dem sich die Frau mit dem Mann traf, war schlicht, billig, eine Spur verrucht. Jede Woche dienstags. Längst schon Gewohnheit. Ein Blick auf das schmiedeeiserne Bettgestell, der schäbige Überwurf, der Tisch ohne Decke, in der Ecke die Lampe aus den Fünfzigern. Es könnte auch eine ganz andere Geschichte sein.


Der Verdacht

Im Sommer soll er abends auf der Holzbank vor seinem Haus gesessen haben, in der Hand ein Glas Rotwein, neben sich den Steinkrug, den er am Nachmittag in seinem Keller aus dem Holzfaß gefüllt hat, eigener Anbau für den Hausgebrauch, prostet den Vorübergehenden zu, wechselt ab und zu einige Worte, bietet dem Nachbarn einen Schluck an, packt mit seiner schwieligen Hand den Krug, kippt etwas auf den Boden für den Freund, der vor zehn Tagen begraben worden ist, krault die Katze, antwortet der Frau, die in der Küche mit den Töpfen hantiert, gibt der achtjährigen Enkelin einen Gute-Nacht-Kuss, streckt die Beine aus, schließt die Augen, geht ins Haus, als es dunkel wird.

Ungeheuer von Florenz verhaftet. Massenmörder. 16 Menschen auf dem Gewissen. Paarweise erschossen mit dem Kleinkalibergewehr. Geschlechtsorgane verstümmelt. Deutsches Touristenpaar unter den Opfern. Zweispalter in der Freitagsausgabe.


Fahrstuhl II

Er öffnete die Fahrstuhltür, drehte sich noch einmal um und betrat den Fahrstuhl. Er drückte auf den obersten Knopf. Er war allein. Mit einem plötzlichen Ruck blieb der Fahrstuhl stehen. Das Display über der Tür zeigte eine Vier an. Er drückte hektisch auf alle Knöpfe, rüttelte an der Tür. Nichts tat sich. Er rutschte in die Hocke, dachte an das Fenster im fünften Stock, das Fenster am Ende des langen Ganges.

Als ihn die Feuerwehrleute nach sieben Stunden fanden, kauerte er in der Ecke, das Gesicht in den Händen vergraben.


Bilanz

Nachdem ein dreißigjähriger Klavierlehrer seine gleichaltrige Schülerin, die eine Liebesbeziehung zu ihm abgebrochen hatte, erwürgt und ihr, um zu verhindern, dass ihre Seele in den Körper zurückfahre, den Kopf abgeschnitten hatte, erschlug er seinen Nachbarn, einen notorischen Alkoholiker und, wie er zu Protokoll gab, "schlechten Menschen" und stieß der Leiche einen Kreuzschlitzschraubendreher in den Kopf, um das dritte Auge zu öffnen, während ein achtundzwanzigjähriger Vater nach einem Streit mit seiner Frau den zehnmonatigen Sohn aus dem neunten Stock auf die Straße warf, enthauptete ein Dreiundzwanzigjähriger seinen vierundachtzig Jahre alten Stiefvater mit einem Samuraischwert, entdeckte eine Hausangestellte in einem Seniorenwohnheim einen sechzigjährigen Mann mit tödlichen Kopfverletzungen, wurde ein Sechsundvierzigjähriger mit einem Ziegelstein erschlagen, stürmte ein Siebzehnjähriger ein Lokal und erschoß die sechsunddreißigjährige Freundin seines älteren Bruders, weil die Familie mit der Verbindung nicht einverstanden war, wurde die seit drei Wochen vermisste Kerstin K. mit zahlreichen Einstichwunden am Kopf und am Hals in einem Weinkeller gefunden, erschoß ein Sechsundzwanzigjähriger einen siebenundfünfzig Jahre alten Ikonenhändler, schwebt ein Geldbote noch immer in Lebensgefahr, betont der Sprecher der Polizei , dass weder das Wetter noch die Stellung des Mondes in irgendeiner Verbindung zu den Straftaten des vergangenen Wochenendes stünden.


Fahrstuhl III

Er öffnete die Fahrstuhltür, drehte sich noch einmal um und betrat den Fahrstuhl. Er drückte auf den obersten Knopf. Er war allein. Der Fahrstuhl bremste sachte ab. Der Mann öffnete die Fahrstuhltür und ging den Gang entlang. Gerade als er das Fenster öffnete, kam die Unterbrechung durch den Werbeblock.


Killing-Time

Sie traf sich mit dem Mann in einem Café. Sie wurden sich schnell einig. Sie feilschte nicht um den Preis. Er versprach, seine Arbeit zuverlässig und sauber zu erledigen. Sie zahlte bar und im voraus.

Zwei Tage später verliebte sie sich. Unsterblich.


Fahrstuhl IV

Der Mann ging zielstrebig auf den Fahrstuhl zu. Gerade als er den Knopf drücken wollte, fiel sein Blick auf das Schild. auser betrib. So ein Pech, murmelte er und verließ das Gebäude.


Fahrstuhl V

Er öffnete die Fahrstuhltür, drehte sich noch einmal um und betrat den Fahrstuhl. Er drückte auf den obersten Knopf. Er war allein. Der Fahrstuhl bremste sachte ab. Er öffnete die Fahrstuhltür, ging den langen Gang entlang, öffnete das Fenster. In der letzten Zeit häufen sich die Wiederholungen.


 
  [zurück zum Inhalt]                [zum nächsten Text]

Die Rechte der Texte liegen bei den Autoren. Veröffentlichung oder Weitergabe erfordert deren Zustimmung.