Verena Liebers
Besuch
Sie stand morgens direkt
neben meinem Bett.
Im Grunde hatte ich sie erwartet, aber nicht gerade mit Freuden. Sie trug rosa
Tülltücher, die wenig verhüllten, und sie hatte eine bezaubernde Figur.
"Hallo, ich bin die Sehnsucht!", sagte sie und fing meine müden Augen mit ihren
glänzenden Pupillen ein. Dunkle Seen in denen das ganze Weltall glitzerte.
Ich bemühte mich, desinteressiert zu wirken, und räkelte mich faul in meinen
Kissen. Es war Samstag und ich hatte heute nichts weiter vor, als mich vom Streß
der Woche zu erholen. Ich mußte Brot kaufen, die Zeitung holen und Herrn Jablonski
zum Geburtstag eine Karte schreiben. Aber ansonsten hatte ich keinerlei Pflichten,
weshalb ich vor zehn Uhr auch gar nicht hatte aufstehen wollen. Der Besuch war
mir lästig. Ich schielte zu meinem Wecker. Erst kurz vor neun! Ich schloß die
Augen und tat so als hätte ich nichts weiter bemerkt. Aber sogleich verlor ich
die Kontrolle über meine Nasenflügel, die jetzt wie zwei zitternde Schmetterlinge
im Frühlingswind den Duft aufsogen, der zu mir herüberwehte. Mandelblüten, Jasmin.
Und die prickelnde Frische saftiger Orangen.
"Das wäre jetzt schön, wenn deine Liebste neben dir läge!", seufzte die Zierliche
verständnisvoll. Und ich seufzte auch. Dann spürte ich die schwarzen Bänder,
die sie mir um den Bauch zurrte. Erst versuchte ich, mich zu wehren, aber dann
bekam ich den Eindruck, daß ich dadurch alles verschlimmerte. Also ertrug ich
gequält den Druck, der mir allmählich den Atem nahm. "Einsam!", flüsterte es
neben mir, und ich überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, meine Ohren zu verschließen.
Aber die Hände waren bereits gefesselt. "Vielleicht ruft sie ja mal an?", echote
es jetzt mit zynischem Unterton neben meinem Kopf. Ich leckte an meinen Bartstoppeln
und erinnerte mich an den Tag, als ich sie an der Straßenbahn traf. Sie lachte.
Immer lachte sie. Sie lachte mich an oder aus, lachte zwischen jedem Buchstaben
und so als wäre jeder Augenblick nur zum Freuen gemacht. Oder sie weinte. Weinte,
so daß die ganze Erde fortgespült wurde. Ohne Tränen? Ohne Lachen? Ich konnte
mich nicht erinnern. Und damals an der Straßenbahn hatte sie gelacht. Dieses
helle, gluckernde Lachen, in das ich mich verliebt hatte, lange ehe ich wußte,
wer sie war. Sie lachte und sagte:
"Na so ein Zufall, daß wir uns treffen!"
"Ja?", fragte ich zurück.
"Vielleicht!", lachte sie. Wir glaubten beide mehr an Fügung, an Schicksal,
an kosmische Verbundenheit als an Zufälle. Andererseits vermittelte sie mir
oft das Gefühl, daß sie einfach wußte, wo ich mich aufhielt. Es war dann ihre
Entscheidung, ob wir zusammentrafen oder nicht. Ich erlebte das mit einer Mischung
aus Schicksalsergebenheit und Faszination. Sie begleitete mich von der Straßenbahnhaltestelle
bis vor meine Haustür, und wie so oft waren wir sofort in alle möglichen Diskussionen
verstrickt. Wir blieben vor meinem Eingang stehen und redeten und scherzten,
und ich erinnere mich daran, daß ich mir damals zum ersten Mal wünschte, ihr
zu gefallen. Dabei ließ sie daran im Grunde gar keinen Zweifel. Oder strahlte
sie jeden so an? Dann kam ein Regenschauer, und wir verabschiedeten uns schnell.
Sie lief leichtfüßig und unbeschwert davon. Ich sah ihr nach während ich die
Tür aufschloß. Und ich fühlte mich melancholisch.
"Sie hat längst eine anderen!", wisperte es jetzt neben mir, und ich sah meine
Hände wie überflüssige Handschuhe nutzlos auf der Bettdecke liegen. Ich dachte
an ihre Locken. Hellbraune, kräuselige Locken voller Sonnenstrahlen, die auf
der Haut kitzelten wie Kükenfedern. Die schwarzen Bänder zurrten sich etwas
fester und drückten ein weiteres Seufzen aus meiner Kehle. Eine kleine Schweißperle
rann über meine Stirn. In Wirklichkeit war es eine Träne, aber ich schämte mich
zu weinen. Ich setzte mich ruckartig auf und sah der Sehnsucht ins Gesicht.
Sie sah wirklich bezaubernd aus.
"Hör mal", sagte ich, und die Sehnsucht lauschte aufmerksam, "im Grunde finde
ich es nett, daß du mich besuchst. Menschen, die du nie besuchst, werden oft
so phantasielos. Aber im Moment bist du mir einfach zu nah! Das ist ja nicht
auszuhalten!" Die Hübsche wirkte nun etwas verunsichert und versteckte ihre
weichen Gesichtszüge hinter ihren hellbraunen Locken.
"Komm", wurde ich nun etwas freundlicher und schwang mich aus dem Bett, "du
kannst dich hier in den Sessel setzen und aus dem Fenster gucken."
Ich legte ihr eine Wolldecke zurecht und holte eine Tasse Tee aus der Küche.
Sie machte es sich bequem und lächelte dabei.
Summend ging ich ins Bad, um mich anzuziehen.
"Das Telefon hat geklingelt!", begrüßte mich die Sehnsucht, als ich aus der
Dusche zurück kam. Ich stutzte einen Moment. Ob sie ausgerechnet jetzt angerufen
hatte und ich das Klingeln nicht bemerkt hatte? Ich strich eine Weile um das
Telefon, staubte die Tastatur ab, prüfte ob das Tuten ertönte. Dann beschloß
ich ihre Nummer zu wählen. Die Sehnsucht kuschelte sich zufrieden unter die
Decke und blickte aus dem Fenster.
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