Michèle Minelli
Süd/Süd-West
Die Unteilbarkeit der Gefühle
ist, was ihr zu schaffen macht.
Der Gedanke daran, dass er jetzt, meilenweit entfernt, nicht an sie denken mag,
wo sie doch seit Stunden allein für ihn nur bebt.
Jeder Duft, jeder Geruch, den sie atmet, jedes Gericht, das sie isst, alles nur für ihn. Als ob er durch ihren Wunsch dieselben kosten könnte. Oh, und wie sie schwelgt, und wie sie isst, den Wein zu Munde führt!
Durch das halbentleerte
Glas betrachtet, sieht der andere, ihr momentaner Begleiter, wie ein abnorm
geformter Fisch aus. Seine Pupillen suchen ungeduldig nach ihrem Lachen. Sie
lässt ihn warten, bis sie es ihm klirrend entgegenklatscht. Er hebt nun seinerseits
das Glas und stimmt hölzern mit ein.
Mit nichts lässt sich erklären, weshalb ich immer an Verstümmelte gerate, an
die lebenslang Verwundeten, die die Liebe zwischen Mühlsteinen zerrieben hat
oder mit dem Mähdrescher überfahren, als es grad zur Ernte ging, und ihr Blick
verliert sich gelangweilt auf der offenen Bucht.
Er hatte dieses verwegene kleine Restaurant fast zufällig und knapp rechtzeitig gefunden, nachdem er sich durch sein Suchen im Dauerwechselblickkontakt zwischen Landkarte und Fahrbahn bereits gefährlich lange dem Dunst ihrer hungernden Laune ausgesetzt hatte. Ganz am Schwanz einer der vielen Häuserzeilen der hiesigen Austernfischer hatten ihm tanzende Lichter den Weg geleuchtet. Noch einmal davongekommen, hatte er lässig den Ellenbogen zum Fenster hinausgehalten und angenehme Wärme luften lassen. Sie hatte sich einen kurzen Eindruck seiner Gestalt geschnappt und dann die Tiefe der Autositze im Verhältnis zur Höhe des Fensterscheibenrahmens bemängelt. Das hatte ihn irritiert, und er hatte den freien Arm wieder an sich gerückt.
Ganz aus Holz gefertigt, auf ein robustes Floss vertäut, hält die Gaststätte von innen, was sie von aussen verspricht. Gepflegtes Interieur, liebevoll bereitete Zweiertische, Häkeldeckchen, Windlicht, Tafelsilber, Serviettenring, roter Fisch, lebend in der Süsswasserglaskugel. Leben.
Mit dem Knöchel ihres mittleren
Fingers pocht sie forschend dagegen. Der Fisch hält inne, scheint sich zu besinnen,
dreht sich in der Folge um seine eigene Achse und zieht nun verkehrt herum unermüdlich
Runden.
Zum Reden steht ihr nicht der Sinn, deshalb hebt sie auch nur rastlos die Schultern,
als er sie bei einer Frage ohne Belang um ihre Meinung bittet. Er hat eine gutschweizerische
Erziehung genossen, er weiss, dass es sich als Mann von Welt gehört, für Gesprächsstoff
zu sorgen, wo die Luft dünn wird, und sich die Dame durch Langeweile bedroht
sieht. Als Mann von Welt will er ihr tatsächlich erscheinen, als nichts Geringeres,
weil er darin ein Anknüpfpunkt an ihr Streben glaubt. Und weil er spiegelt,
was er selbst in sich nicht sehen mag.
Er äussert sich zu den Austern. Ihre Augen schimmern flüchtig aus der Müde auf.
Er selbst befindet diese von aussen hässlich anzusehende Meeresfrucht für unheimlich,
auch nicht deutbar in Geschmack, mit nichts zu vergleichen, was ihm sonst bekannt.
"Es scheint mir, die Auster erlangt alleine durch den Saft der Zitrone eine
Art erschwindelter Identität, die ihr selbst als Gattung und Zucht verwehrt
bleibt. Vielleicht auch so zu deuten der Hinweis des Wirts, man solle das Fruchtfleisch
nicht zerkauen, sondern lediglich einmal kurz hineinbeissen und dann hinunterspülen",
fachmännisches Schmunzeln, "damit keiner hinter den Betrug kommt!"
"Aber schmecken sie dir denn", will sie wissen. Er wehrt ab. Er glaubt nicht,
dass ihm die Austern schmecken können, wenn sie im Eigentlichen nach gar nichts
schmecken.
Sie sieht ihn sich genauer an, was er für Interesse hält und wohlgemuts weiterschmunzelt,
derweil sie schweigend notiert, dass ihm die Austern nicht bekommen. Sein Gesicht
wird gelb. Schlimmer noch als sein ganzer Körper, ein übles, ungesundes, flackerndes
Gelb. Ihr schaudert und sie wendet den Blick.
Der, den sie vermisst,
hat weisse Haut. Weiss und leicht bläulich, wie Schnee im Nächterglanz. Weiss
und unversehrt.
Dieser hier aber, der da so ungelenk mit den weiblichsten aller Meereswundern
herumhantiert, ist wie Matsch während der Schmelze.
Sie knackt eine Krabbenschere, leert ihr Glas, stiert auf die Wölbung der Bucht.
In den Wolken fischt sie nach ihm, zieht ihn zu sich herab zum Erdenboden, herein
in dieses Schmuckstück auf Planken, zu ihr, an sich, den reich gedeckten Tisch.
der so friedvoll süss im lauen Wind des Südens wiegt.
Vier Jahre war sie mit
ihm zusammengewesen, war mit ihm gereist, hatte im Weich seiner Schulter geschlummert,
vier Jahre lang die Sonne mit ihm aufgehen sehen, vier Jahre lang den Mond,
bis er eines Mittags nach dem Essen sich erhoben hatte und sagte, er müsse raus.
Er hatte sie abgeschüttelt wie der Hund die lästige Kette, die Katze das Nass,
er hatte sie abgeschüttelt und war gegangen. Raus, wie er es nannte, in die
Welt. Noch etwas erleben, etwas sehen, bevor's zu spät und gar noch Kinder kämen.
Die Hände waren ihr an den Armen klamm geworden, die Zunge im Mund verbleit,
wie sie sich gleichermassen erhoben hatte, stehenblieb, als er ging.
Ein Jahr lang hatte sie sich nach ihm im Kreise gedreht, innehaltend nur, wenn
bisweilen eine seiner Postkarten eintraf, freundlich grüssend, im Bericht unverbindlich,
wie, als wenn es so etwas wie ein glühendes Zusammenschmelzen zwischen ihnen
nie gegeben hätte. Dann setzte sie sich jeweils auflauschend hin und horchte
der Ermattung in den Gliedern.
Bis zu dem Tag, da sie beschlossen hatte, selber zu verreisen. Es war äusserst
schwierig gewesen, eine Route zusammenzustellen, die seine Koordinaten nie durchkreuzte,
wo es keine Vorgepräge gab. Weder seine, noch solche, die sie zusammen mit ihm
begründet. Nicht, dass sie geglaubt hätte, ihn dort draussen irgendwo zu finden,
viel eher wollte sie das erforschen, nach dem es ihm verlangt, was ihn ihr entrissen
hatte, ihm eingebläut, für sie sei jeglicher Platz in seinem Leben zu viel,
ihrer müsse man sich erst entledigen, bevor man freie Schritte unternehmen könne.
Diesem überdimensionalen Etwas, das ihn ihr entlockt, wollte nun auch sie eine
Lockung abgewinnen, um endlich zu verstehen, weshalb er schulterzuckend zurückgelassen
hatte, was sie mit ihm verband.
"Ist denn noch was drin?"
Widersträubend legt sie den leergesaugten Krabbenarm zu den Schneckengehäusen
in das blasse Glasgeschirr. Noch etwas Wein, will er wissen, und: du trinkst
zu schnell. "Wovon glaubst du, dass dieser Fisch da träumt?"
Aber sie weiss es bereits, hat es schliesslich mehrfach erprobt, das Hinterhältige
ihrer Fragen macht auch ihm zu schaffen, sie weiss, dass es nichts zu erwidern
gibt, und sie bleibt unbewegt und wesenlos, als er schweigt.
Die meisten, die sie auf
ihrer Suche angetroffen hatte, begegneten ihrer Zweideutigkeit mit Unvermögen,
wollten den Marsch nicht in Kauf nehmen, ihr Rätsel zu entschlüsseln. Sie wurden
von ihr früher oder später denn auch stehengelassen, wenn sie weiterzog, da
sie jetzt an der Reihe war, weiterzuziehen, ihrem Ziel, irgendeinem ruhigen
Dorf an der unteren Atlantikküste Frankreichs, entgegen.
Den aktuellen Begleiter hatte sie vor wenigen Tagen erst getroffen bei einer
Schiffsüberfahrt von der Bucht zur Landzunge. Sie hatte sich mit dem Kapitän
über Ebbe und Flut unterhalten, die Rolle des Mondes bei diesem Spiel, und hatte
dann sein Instrumentarium bewundert, ehrlich, fast aufgeweckt, den Tiefenmesser,
Sextanten, goldgefassten Kompass. Sie hatte gesagt, dass es ihr gefalle, hier
im Südwesten des Landes. Süd/Südwest, hatte sie ein Unbekannter in ihrer Muttersprache
korrigiert. Und höflich gelächelt.
"Ich habe Sie am Akzent erkannt." Der Kapitän hatte eine Braue hochgezogen und
gefragt, ob sie beide zusammen reisten.
"Bis der Sprit alle ist!" hatte sie spontan erwidert und dem Neuen ins Gesicht
gelacht.
Dieses Lachen war es, was ihn an ihr gepackt, dieses Lachen, das wie aus dem Nichts hervorplatzen konnte, das Recht auf Heiterkeit für sich in Anspruch nahm, wo kein vernunftgeprägtes Menschenauge Anlass dazu erblicken konnte. Er wollte es erforschen, einnehmen, besitzen, dieses Lachen, das nur der Unverschämtheit entspringen konnte oder der Unvernunft.
In den darauffolgenden
Tagen hatte er sie heimlich beobachtet. Er hatte ihren Gang belauert, ihre Art,
den Bikini zurechtzurücken, die Bewegung, die fast unmerklich durch ihren Körper
zitterte, bevor sie von Felsvorsprüngen ins Wasser brach. Alles an ihr befand
er für interessant, beständig hatte er ihr zugenickt, sie ermuntert, sich selbst
zu sein, weil er sie durchleuchten wollte, erfassen bis ins Innerste.
Sie liess sich schmeicheln, zuerst, hatte sich dem Gesuchten ein Stück in die
Nähe gerückt gehofft.
Dieses Aufhorchen war aber zu kurzer Dauer nur bestimmt.
Bald schon ward ihr ungemach, wenn sie seine Blicke auf sich gieren spürte.
Fühlte sich durch ihn gestört, in ihrem Kreuzzug verzögert, und hatte doch nicht
gewusst, sich zu entziehen. Sein Bestreben, sie hingebend und weich zu machen,
verwirrte, seine Impertinenz dabei liess sie an der Weltenordnung zweifeln.
Wer ist dieser Mensch, dem so nach mir verlangt, der sich durch nichts wegschrecken
lässt, durch meine körperliche Verneinung nicht und nicht durch von Hass getriebenen
Augenaufschlägen? Wer ist der, der sich an mich klebt, wie die Federn an den
Teer? Was will er denn von mir?
Sie wirtschaftete sparsam mit Freundlichkeiten, Vertrautheiten liess sie keine gelten. Die Flasche mit Sonnenöl hatte sie ihm feurig entrissen, als er sich daran vergehen wollte, sie einzucremen. Er. Er beobachtete mit wachsamem Auge und betitelte mit interessant, was ihn aufzudröseln verlangte.
"Interessant."
Sie lacht heiser auf und keucht erregt:
"Ich möchte da nicht ein Käfer sein, dessen Behausung und denselbst du sezierst,
nur für dieses eine, dieses erstaunte und ultimative, Aha interessant!"
Aber er schaut sie weiter an, mit diesem unheimlichen Blick, als ob er mit den Augen hören könnte und nicht sehen, und darin auch nichts sehen lässt.
Am meisten erschrecken sie seine gelegentlichen Aussprüche, seine angedeuteten Massregelungen, wie in jedem Chaos steckt der Wunsch nach Ordnung oder schlimmer du wirst dich auch noch zurechtbiegen lassen.
"Mein Leben leben, möcht
ich", erwidert sie, "wie der geschützte Blumenkelch, der sich nur gegen das
Sonnenlicht hin öffnet."
Und er lacht sie aus, sagt: "Wie weltfremd", und doch, "das hast du eben schön
gesagt."
Sie hatte diese für ihn
beunruhigende Art, an einem lichten Platz, einer warmen Stelle zu lange zu verweilen,
über das normale Mass der angebrachten Zeit hinaus: endlich zur Ruhe gekommen,
sass sie noch ganz in sich versenkt, wenn er bereits drängend Hunger verspürte
oder Kühle und die Nacht einzog. Für sie war das wie ein Festhalten oder Sterbenmüssen.
Festhalten oder ich muss sterben.
Irgendwann hatte er sie davon überzeugt, dass er sie gerne zu einem gediegenen
Abendessen ausführen wolle, und da sie zugeben musste, dass ihr Kräftehaushalt
gemindert war, hatte sie ihm ihre Hand entgegen gestreckt und erlaubt, sie aus
der Sandhöhlung hochzuziehen.
Er lässt den Desserttrolley
auffahren. Geübte Handbewegung. Erklärt ihr die Zusammensetzung der verschiedenen
Süssspeisen, preist die eine, verwirft eine andere. Empfiehlt baskisches Törtchengebäck.
Gibt etwas zu herrisch die Bestellung auf, greift auch sogleich nach einer Zigarette.
Fragt nicht, ob sie der Rauch stören würde.
Er erzählt von sich, in der Hoffnung, als Gegenpfand Einzelheiten ihres Treibens
zu erfahren. Seine Sätze sind mit falschem Grossmut gespickt, seine Floskeln
leicht zu durchschauen. Den wie achtlos hingemurmelten Abenteuern und Erlebnissen,
die er ihr so billig preisgibt, haftet der Geruch von Gestohlenem an. Sie glaubt
ihn zu keinerlei Erfindungen des Geistes fähig, in dieser Hinsicht, wohl aber
dem Abkupfern, dem ehrlosen Widergeben von Geschehnissen, von denen er vielleicht
gelesen oder über Radio gehört hatte, die ihm bestenfalls ein Bekannter erzählt
hatte, und denen er nun seinen Stempel aufzudrücken versucht.
Der hier ist bei weitem nicht so gewandt und souverän wie er, denkt sie. Ein
blosser Funktionär, Phantasieloser, ein Entleerter, Ausgeträumter. An mir will
er sich aufladen, meinen Lebenssaft mir entschlürfen, ein Vampir am Gelebten,
ein Dieb am Beseelten.
An seinen Berichten erkennt sie ihn als verlorenen Sohn, der dem Vater zu allzu
wenig Ehre gereicht hatte. Verstossen und auf einer zweifelhaften Suche nach
verspäteter Anerkennung, Lobhuldigung und damit Wiedergutmachung, die ihn aus
dem Sumpf des Bannspruchs heben soll. Was leichter also, als sich ebenfalls
die Opfer etwaiger Ungereimtheiten auszusuchen, ihn zu erlösen? Aber genau das
will ihm nicht gelingen, gerät er doch immerzu an solche, an deren Unbedingtheit
er mit seinem Tun und Scheinen zerschellen muss.
Ich bin wie der Leuchtturm, den die Wirbellosen hochzuklettern versuchen, Gewürm
zu meinen Füssen, denkt sie, als sie wieder hinhört.
Und er lügt auch, besteht vor ihren Augen auf den dreistesten Dingen, aber nicht
wie ein in Bedrängnis geratenes Kind, das war er vormals vielleicht einmal gewesen,
sondern wie ein Mann, der sich oberflächlich etwas geben will, was von innen
her nicht ist. Sie erschrickt. Ich glaub, ich bin verbittert.
Das Dessert nehmen sie schweigend zu sich. Sie ist ihm ins Wort gefallen, gerade als er zu einer neuen Geschichte anhob, und hat gesagt, dass er nun nichts mehr zu sagen brauche.
Sie würde sich wieder einmal
ausklinken. Den Weg doch wieder alleine beschreiten, der ihr immer ungehbarer
scheint. Viele hat sie getroffen, dieser ist nur einer mehr. Alle hat sie zurückgelassen.
Richtig verbittert.
Sie macht eine abwinkende Bewegung aus dem Handgelenk. Bis zum Begleichen der
Rechnung fällt kein weiteres Wort. Die Stille an ihrem Tisch hat etwas Ungehöriges,
das Rauschen und Klingen der Gäste um sie, etwas wie Hohn oder Besserwisserei.
Er bezahlt mit der Goldenen Karte, auf die er so viel gibt, oh, warum kann das
sein Vater nicht sehen, dann wäre wenigstens einer gerettet! Er verschluckt
sich und räuspert sich ungnädig. Sie behält den Mund weiterhin verschlossen,
in der Angst, durch ihn könne ihr das letzte Restchen Verstand entschlüpfen.
Laut und tierisch brüllt in ihr das Wissen um ihre Vergeblichkeit auf. Ihre
Augen sind geweitet, die Sinne zum Zerspringen erregt. Und als einzige wilde
Hoffnung hinter ihrer Stirn, das von Herzensblut durchwirkte Bild zweier Menschen,
die vor langer Zeit in entgegengesetzter Richtung aufgebrochen sind, die quer
über den Erdball hinweg unweigerlich wieder aufeinander zugehen mussten.
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