Mark Pätzold

Herr P. schreibt einen Brief
 

Herr P. hatte es mit einem "A" probiert, aber es war so gründlich danebengegangen, daß er wieder vom Tisch aufgestanden war, um weiter die Radieschen zu vereinzeln. Jedes zweite. Eines zupfen, in den Eimer fallen lassen, nach einer Weile auf den Knien ein Stück weiter rutschen, weiterzupfen. Jedes zweite. Morgen waren dann die Möhren dran. Herr P. zupfte, bis er um die Mittagszeit ein kleines Hungergefühl verspürte. Er wischte sich die erdigen Hände an seinem weißen Feinrippunterhemd ab, dabei fiel ihm ein, daß Efi - Efi war, wie könnte es anders sein, seine Frau, daß Efi ihm deswegen wieder einen Vortrag über die Mühen des Wäschewaschens halten würde, und daß sich ihr erster Mann auch immer die Hände an seinem Hemd - und auf den Oberschenkeln - abgewischt hatte, und daß sie es ihm nach zwölf Ehejahren aber endlich abgewöhnt hatte. Kurz darauf war er gestorben.
Herr P. wollte noch ein Weilchen am Leben bleiben, zumindest so lange bis die Radieschen vereinzelt waren - und die Möhren. Er rubbelte sich seine Handrücken ebenfalls sauber und ging in den kleinen, weiß getünchten Bungalow. Dort sah er das Blatt mit dem mißglücktem "A" auf dem Tisch liegen und er stieß einen kleinen Seufzer aus. Vielleicht sollte er es für den Anfang mit etwas Einfacherem probieren. Herr P. überlegte, was es noch für Buchstaben gab, dann entschloß er sich zu einem "I". Mühsam kritzelte er mit dem Kugelschreiber auf dem Papier entlang. Herr P. betrachtete sein Werk. Es sah ein wenig krumm aus, fast wie Efis Rücken. Aber es war trotzdem ein "I". Herr P. fand, er hatte sich eine kleine Belohnung verdient. Er stand auf, aus dem Schrank in der Kochnische nahm er eine Dose Erbsensuppe mit Bauchspeck, öffnete sie und kippte den Inhalt in einen zerbeulten Alu-Topf. Den Topf stellte er auf den Propangaskocher.
Wieder am Tisch fiel ihm nicht sofort ein neuer Buchstabe ein, also gönnte sich Herr P noch ein "I". Nach einer kurzen Verschnaufpause probierte er ein "O". Es klappte.
Schon hatte er den Telefonhörer in der Hand, um Manne anzurufen und ihm von seinem Erfolg zu erzählen, da fiel ihm ein: das Telefon war kaputt. Alle Telefone waren kaputt, alle Telefone in der ganzen Stadt - und auch in der Kleingartenkolonie "Glückliche Gartenfreunde e.V.". Die zentrale Vermittlungsstelle der Stadt war letzte Nacht nach einem Blitzschlag völlig abgebrannt, das hatte er im Radio gehört, und es würde eine unbestimmte Zeit dauern, bis die Telefone wieder funktionieren würden. Herr P. konnte Manne nicht anrufen. Und da fiel ihm auch wieder ein, warum er das "A", die "I"s und das "O" auf das Papier gekrakelt hatte; er wollte einen Brief schreiben, einen Brief an Efi. Er mußte einen Brief schreiben, Efi war für ein paar Tage verreist, und anrufen ging ja nicht.
Was für Buchstaben brauchte man noch für einen Brief?, fragte sich Herr P. während er mit einem Holzlöffel die Erbsensuppe umrührte. Ein "E" - auf jeden Fall, und ein "K". Er konnte sich kaum noch daran erinnern wie ein "K" aussah. Herr P. rührte weiter. Ein "K", das hatte er doch erst letztens gesehen, aber wo? Er steckte einen Finger in die Suppe, aber sie war erst lauwarm. Sein Blick fiel in den offenen Mülleimer, zuoberst lag die leere Suppendose. Die Dose hatte ein Etikett. Auf dem Etikett, das bemerkte Herr P. erst jetzt, waren Buchstaben. Schnell zog er seinen Finger aus der Suppe, wischte ihn ab - natürlich an seinem Unterhemd - und fischte die Dose aus dem Abfall. Daß dabei die Reste aus der Dose auf den Boden tropften, bemerkte er nicht. Vielmehr schaute er, nachdem er die Dose auf Augenhöhe gebracht hatte, auf das Schild und staunte. Da waren Buchstaben. Müllers Mühle, Erbsensuppe, las Herr P. mit einiger Anstrengung. Dann schaute er sich die Worte noch einmal an, um sicher zu gehen, daß er sich nicht geirrt hatte und dort wirklich kein "K" stand. Er schaute auf die nächste Zeile: mit Bauchspeck, und lächelte. Da war eines. Ganz zum Schluß. Herr P. setzte sich wieder an den Tisch und stellte die Dose so vor sich hin, daß er das "K" gut sehen konnte. Dann probierte er, selbst eines zu schreiben. Mit dem Kugelschreiber in der Hand starrte er auf die Dose, dann schaute er auf das Blatt, dort standen immer noch nur das "A", die beiden "I's" und das "O". Wiederholt schaute er sich das "K" an, überlegte wie er anfangen sollte. Dann glaubte er, eine Idee zu haben; er schrieb zuerst ein "I" und machte an das "I" noch einen Strich, dann noch einen - und staunte. Da war es, ein "K". Herr P. setzte sich in Positur und wiederholte die Schritte - noch ein "K". Und dann noch eines. Er schrieb die Seite mit "K"s voll, holte sich ein neues Blatt und schrieb auch dieses voll. Dann die Rückseiten. Er stellte fest, daß jedes "K" etwas anders aussah, und doch war es immer der gleiche Buchstabe, und es roch angebrannt, und Herr P. wollte sich gerade einen neuen Buchstaben vornehmen, da hörte er ein Knistern, und er schnupperte die brenzlige Luft. Er sprang auf, stürzte in die Kochnische. Er hatte den Topf mit der Erbsensuppe vergessen - den nun ehemaligen Topf mit der nun ehemaligen Erbsensuppe. Den Topf stellte er auf die Seite und drehte die Propangaszufuhr des Kochers aus, eilte an den Tisch zurück und nahm sofort wieder den Kugelschreiber in der Hand. Auf dem Kugelschreiber stand: BUNTE, und Herr P. schaute auf die Buchstaben und freute sich auf ein gutes "B".
Das Telefon klingelte. Es klingelte vierzehn Male hintereinander. Aber Herr P. ging nicht hin, um den Hörer abzunehmen. Herr P. schrieb weiter. Herr P. schrieb gerade ein "V", und er schrieb es auf den Lampenschirm über dem Tisch.
Die Südwand des Bungalows hatte er für "F"s und "D"s gebraucht, die Nordwand und die Ostwand war mit "Q"s bedeckt - das "Q" hatte ihm einige Schwierigkeiten bereitet. Auf den Scheuerleisten hatten sich "E"s niedergelassen und von der Decke schauten "H"s und "L"s auf Herrn P. herab. Alle Wände, alle Schränke, jede freie Stelle hatte er benutzt, um Buchstaben zu schreiben. Das Telefonklingeln hatte er nicht gehört.
Am Donnerstag kamen ein paar Rettungssanitäter vorbei. Efi hatte, von ihrer Reise zurückgekehrt, ihren Mann überrascht, wie er gerade das letzte vorhandene Stück Toilettenpapier mit Ypsilons bedeckte. Sie hatte ihn gefragt, was er da mache, bemerkte kurz darauf die Veränderungen im Inneren des Bungalows, dann wurde sie Zeuge, wie ihr Mann anfing "P"s auf den Stiel der Klobürste zu schreiben. Die Rettungssanitäter brauchten fünfundvierzig Minuten bis in die Schrebergartenkolonie "Glückliche Gartenfreunde".
Als sie eintrafen, Efi hatte ihnen nicht genau erklären können, was sie erwartete, lag Herr P. vor dem Bungalow, lag auf dem Bauch und schrieb Kommas auf dem Gartenschlauch. Herr P. leistete keinerlei Widerstand, als man ihn gemeinsam auf seine Beine stellte. Friedlich schrieb er dem Notarzt ein Semikolon auf die Stirn, und bevor es jemand verhindern konnte auch noch einen Doppelpunkt. Ein Sanitäter zog geistesgegenwärtig einen alten Einkaufszettel aus der Hosentasche und Herr P. ging darauf zu. Ganz friedlich. Mit dem Papier lockte der Sanitäter ihn in den Wagen, und als Herr P. drin war gab er ihm den Zettel, auf dem schon wenige Sekunden später ein paar Ausrufezeichen und drei "Ö"s erschienen.
Der Rettungswagen fuhr an, und Efi blieb vor dem Bungalow stehen. Drinnen läutete das Telefon.


 
  [zurück zum Inhalt]                [zum nächsten Text]

Die Rechte der Texte liegen bei den Autoren. Veröffentlichung oder Weitergabe erfordert deren Zustimmung.